Von: Stephan Freißmann
Singen – Amokläufe, Burnout, Naturkatastrophen, Terroranschläge – alles schlimme und schreckliche Dinge, die sich niemand wünscht, die aber trotzdem vorkommen. Und die zum täglichen Brot von Karin Clemens gehören. Sie ist Psychologin und Therapeutin und leitet als Geschäftsführerin das Unternehmen Humanprotect Consulting, das eine Tochter der R+V Versicherungen ist und seinen Sitz in Köln hat. Das Kerngeschäft des Unternehmens: psychologische Nothilfe nach schlimmen Ereignissen. Am Donnerstag, 20. April, ist sie zu Gast beim Wirtschaftsforum in der Singener Stadthalle. Mit einem Workshop will sie Mitarbeitern von Unternehmen helfen, widerstandfähig gegen Unsicherheiten zu werden.
Wenn Clemens über die Arbeit spricht, die sie selbst und ein bundesweites Netzwerk von Psychologen und Therapeuten erledigen, klingt das wie eine Zusammenstellung all dessen, was man sich gerade nicht wünscht: „Wir sind im Einsatz nach Terroranschlägen oder nach Amokläufen wie in Freising, Winnenden oder im Münchner Olympia-Einkaufszentrum.“ Auch nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs sei das Unternehmen gefragt gewesen.
In der Frühzeit von Humanprotect sei sie sogar nach New York geflogen, erzählt die 58-Jährige. Sie sei gerade dabei gewesen, mit einem Kollegen ein Netzwerk aus Psychologen und Therapeuten aufzubauen, die Nothilfe leisten können, als am 11. September 2001 der Terroranschlag auf das World Trade Center die Welt erschütterte. Eine Bank mit Sitz in Deutschland, die in New York eine Niederlassung hatte, habe sich damals an sie gewendet, um die dortigen Mitarbeiter und ihre Angehörigen zu betreuen. „Da haben wir Akut-Intervention gemacht“, erzählt Clemens. Auch 2021 bei der Flutkatastrophe im Ahrtal sei die Agentur gefragt gewesen.
Das Ziel der Einsätze: Menschen, die Traumatisierendes erlebt haben, sollen keine bleibenden psychischen Schäden davontragen. „Deswegen unterstützen wir sehr frühzeitig, damit nichts Schlimmeres passiert“, sagt Clemens. In der Phase nach dem ersten Schock könne ein Experte abschätzen, wie wahrscheinlich es ist, dass jemand psychisch erkrankt. In dieser Phase könne man therapeutisch Einfluss auf die seelische Heilung nehmen.
Was Clemens und das Mitarbeiterteam machen, nennt sie im Fachjargon Sekundärprävention. Diese soll dafür sorgen, dass Menschen, die etwas Schlimmes erlebt haben, gar nicht erst erkranken. Im Gegensatz dazu bedeutet Primärprävention, dass man traumatisierende Ereignisse verhindert – was aber nicht immer möglich ist. Ein Beispiel sind schwere Arbeitsunfälle, bei denen jemand verletzt wird und Kollegen das mit ansehen müssen. Mit Kurzzeittherapien habe man bei Krisenintervention gute Erfahrungen.
Doch Menschen können auch selbst ihre Widerstandskraft gegen Krisenereignisse steigern. Als Beispiel nennt Clemens, dass man regelmäßig seine eigenen Gedanken und Gefühle überprüfen könne. Denn Gefühle seien ein Ergebnis von Bewertungen, die wiederum häufig auf frühkindlichen Prägungen beruhen würden. Wer wunde Punkte bei sich erkennt, die regelmäßig zu starken Gefühlen wie Ärger oder Unsicherheit führen, könne auch trainieren, solche Themen mit mehr emotionalem Abstand zu betrachten. Unter anderem mit praktischen Übungen wolle sie beim Wirtschaftsforum am 20. April vermitteln, wie man widerstandsfähig im Umgang mit Krisen wird – in der Fachsprache Resilienz genannt.
Warum fühlt sich nun ausgerechnet eine Versicherung dafür zuständig, diese Art von Nothilfe anzubieten? Clemens erklärt das mit den Ursprüngen des Unternehmens. Um die Jahrtausendwende seien Banküberfälle ein großes Problem gewesen. Die heutige Unternehmensmutter R+V versichere auch Banken und habe jemanden gesucht, der Opfer von Banküberfällen betreuen kann. Sie habe damals als Trauma-Therapeutin in Köln gearbeitet und sei in das Thema eingestiegen. Mittlerweile seien Berufsgenossenschaften, Banken, Versicherungen und andere Unternehmen ihre Auftraggeber. Teilweise kämen aber auch Privatleute zu ihnen, die von Versicherungen geschickt würden, so Clemens, die nach wie vor selbst therapeutisch arbeitet.
Zu Person und Veranstaltung
Karin Clemens , 58, wurde in Aachen geboren und hat in Bonn klinische und Rechtspsychologie studiert. Die Ausbildung hat sie nach eigenen Angaben im Jugendstrafvollzug absolviert. Weitere Stationen waren demnach das Institut für Therapieforschung in München, das sich mit Drogen- und Suchtproblemen beschäftigt, und das Institut für Rettungsdienste in Bonn. Um die Jahrtausendwende begann sie nach Pilotprojekten, das Netzwerk von Humanprotect aufzubauen, 2001 gründete sie das Unternehmen. Clemens hat zwei erwachsene Kinder.
Das Singener Wirtschaftsforum ist eines der prestigeträchtigsten Treffen der regionalen Wirtschaft. Die zehnte Ausgabe der Veranstaltung beschäftigt sich am Donnerstag, 20. April, mit dem Thema Widerstandskraft, wie die Veranstalter ankündigen. „Sicherheit im Umgang mit Unsicherheit“ lautet der Titel in diesem Jahr. Als Hauptredner zur Abendveranstaltung wird Turnstar Fabian Hambüchen erwartet. In seinem Vortrag „Stürzen, aufstehen, siegen lernen“ gibt er Tipps zum Umgang mit Niederlagen. SÜDKURIER-Chefredakteur Stefan Lutz moderiert den Abend. Hambüchen, Goldmedaillengewinner bei Olympia und Autor, schildere die Wichtigkeit der mentalen Vorbereitung auf dem Weg zum Erfolg. Karten für die Abendveranstaltung zu 12 Euro gibt es in der Stadthalle oder im Internet unter www.singencongress.de. Das Tagesticket für die Workshops am Nachmittag kostet 140 Euro, das Kombiticket 150 Euro. Beides gibt es auf derselben Webseite. (eph)
Quelle: Südkurier